Winterzeit ist Wurstmachzeit

Eine Geschichte aus der Präcorona-Zeit

Der Januar ist ja nun nicht gerade als Wonnemonat bekannt. Erst recht nicht, wenn er nasskalt, trüb und im unteren Plusbereich der Temperaturen, so vor sich hin wintert. Und da kann man sich zu dieser Jahreszeit wahrlich einen schöneren Start in einen Tag am Wochenende vorstellen, als dass um 5:45 Uhr der Wecker klingelt. Dunkel, grau, feucht, dass ist der erste Eindruck dieses Tages, beim Blick aus dem Fenster.  Und trotz dieser widrigen Bedingungen ist die Vorfreude groß. Denn Winterzeit ist Wurstmachzeit! Und wohl dem, der einen Kumpel hat, der Wurst machen kann und  zum Wurstmachen eingeladen hat. Also nach der nötigsten Körperpflege  schnell heißes Wasser durch das frisch gemahlene Pulver in der blubbernden Bialetti gejagt, in Sachen Kleidung umfangreich das Zwiebelprinzip angewendet, die wasserfestesten Schuhe unter die Füße geschnallt, die aufzutreiben waren und dann geht’s auch schon rauf auf den Drahtesel. Ziel ist ein Hof mit kleiner Schlachtkammer in einer Scheune, irgendwo jenseits der Berliner Stadtgrenze. Der erste Eindruck bestätigt sich. 3° C, grau, kalt, Handschuhwetter. Immerhin regnet es nicht, aber trotzdem ist alles feucht, da eine stabile Nebelwand über diesem Morgen hängt. Von hereinbrechender Dämmerung noch nix zu merken. Feinste Tröpfchen vor dem Fahrradlicht. Die ca. 15minütige Fahrt sorgt wenigstens dafür, dass der Kreislauf etwas in Schwung kommt und hilft dabei, die 2 Bier zu viel, die es am Vorabend im Fußballer-Vereinsheim dann doch wieder geworden sind, aus dem Körper zu strampeln.

Am Zielort angekommen, herrscht dort bereits eine rege Betriebsamkeit. Es ist 6:30 Uhr aber hier klappern Zinkwannen, es werden Schneidebretter zusammengetragen, ein großer eingemauerter Kessel wird angefeuert, Kaffee gebrüht, säckeweise Zwiebeln herangeschafft, Wasser in Eimer gefüllt, große Fleischbrocken gestapelt, Küchenwerkzeuge sortiert  und – erstaunlich – schon herzhaft gelacht zu dieser frühen Stunde. Alles ist hell erleuchtet und die Bluetooth-Box ist auch schon in Betrieb.  Schlachtfest aufm Dorf, na das kann was werden.  Der Gastgeber begrüßt  mit der gewohnt charmanten Berlin-Brandenburger Nonchalance: „Alter, siehst du kacke aus!“ gefolgt von einem herzlichen Lachen und einem Abklatsch-Ritual.

Nachdem man sich einen ersten Überblick über die Lage gemacht hat und alle anwesenden Wurst-Freunde mit selbigem  Abklatsch-Ritual begrüßt und von wirklich  jedem mindestens  einen augenzwinkernden dummen Spruch kassiert hat, steht auch schon die erste Herausforderung an:  „Planungsmolle“ wird ausgerufen! Man kann sich zwar noch nicht wirklich vorstellen, wie man jetzt um 6:45 Uhr schon ein Bier runter bekommen soll, wo doch das  letzte  von gestern Abend  noch beharrlich an die Schädeldecke hämmert, aber Schlachtfest ist kein Ponyhof, soviel steht fest. Vorsichtiger Protest wird energisch abgewiesen: Auf die Frage „Wie, ihr wollt jetzt schon mit saufen anfangen?“ kommt ein energisches: „Alter, wat is denn mit dir nich in Ordnung? Hast du een  anner Murmel oder wat?“  Und die Begründung wird postwendend nachgeliefert:  „Wenn die Sau am Haken hängt, wird erst mal einer eingeschenkt. Ist die Sau aber noch am Leben, kann man trotzdem einen heben.“ Na dann also, Planungsmolle…is ja gut. Prost! Der Tagesplan wird grob skizziert. Auf dem Programm stehen heute: Salami, Leberwurst, Rotwurst und Blutwurst (letztere auch liebevoll „Tote Oma“ genannt).

Zur Erklärung: Geschlachtet wurde schon zwei Wochen zuvor, heute geht es darum, eingefrorenes Fleisch  zu verarbeiten. Wurstmachen halt. Der Gastgeber überprüft noch mal kritisch die Outfits der Anwesenden. Man bekommt zum Glück eine stabile Gummi-Schürze ausgehändigt ohne die der Tag deutlich unangenehmer verlaufen wäre. Und die Planungsmolle läuft dann sogar  irgendwie rein in den Kopf. Der erste Schluck noch von Überwindung geprägt, aber dann geht es auch schon wieder. Na also, willkommen im Wurstmach-Tag! Zugegeben, die Musik ist noch ausbaufähig, aus der Bluetooth-Box singt Kerstin Ott „Komm lass die Welt bemalen, in Regenbogenfarben“. Aber ansonsten gibt es bislang nix zu beanstanden.

Der Ablaufplan wird festgelegt. Als erstes müssen die dicken Brocken für die Rotwurst, Blutwurst und Leberwurst in den Kessel: Bauch, Schweineherz und Schwarte, jede Menge Schwarte! Nach kurzer Zeit breitet sich ein angenehmer Duft von Fleischbrühe in der kleinen aber feinen Schlachtkammer aus. Währenddessen ist man zum Zwiebelschälen eingeteilt  worden. Ist ja klar: Wer zum ersten Mal beim Schlachtfest ist, kann nicht gleich die große Kelle am Kessel schwingen, der muss sich über  Zwiebeln-Schneiden erst mal in der Hierarchie nach oben dienen.  Und 20 kg Zwiebeln pellen und vierteln, morgens um 7:00 Uhr,  das ist schon mal ne Hausnummer, eine tränenreiche obendrein. Immerhin setzt draußen langsam die Morgendämmerung ein.   Jedes Mal wenn der Deckel vom großen Wurstkessel angehoben wird, steigt eine Dampfwolke herauf, die die kleine Schlachtkammer komplett vernebelt. Nasennebenhöhlenprobleme wird hier heute keiner bekommen, bei so viel permanenter Inhalation, so viel ist sicher.

Jedenfalls hat man sich nach den 20 kg Zwiebeln das nächste Bier redlich verdient, das wird auch von den anderen Wurst-Freunden so gesehen. Und das zweite perlt schon wieder ganz gut runter. Und während man also bei der zweiten Molle blöde Sprüche mit den Wurst-Freunden klopft und der Geruch der Wurstbrühe langsam auch über den ganzen Hof wabert, kommt die Ansage: „So, nun aber los! Salami machen!“ Gesagt, getan. Salamimachen. Wir brauchen Schweinebauch, Schweinefilet, Speck, sehr fettigen Speck etwas Rindfleisch (wegen der Festigkeit der Wurst, wie erklärt wird), Knoblauch   und allerhand Gewürze, wie Pökelsalz, Kochsalz, weißer Pfeffer, schwarzer Pfeffer, Senfsaat, Kardamom und ganz wichtig: Weinbrand! Ein übereifriger Wurst-Freund, der bereits mit dem Vermengen der Zutaten beginnen will, wird vom Gastgeber zurückgepfiffen: „Wie wat? Bist du bescheuert? Erstmal Hackepeter fürs Frühstück durchdrehen!“ Also werden kurzerhand ein paar sehr solide Stücken Schweinebauch durch den Fleischwolf gedreht, gesalzen, gepfeffert und in einer Plastikschale beiseite gestellt. Und dann also die Salami. Fleisch und Knoblauch einmal durch den Wolf, bitte. Und was soll man sagen:  Es riecht mega geil! Und so eine randvoll gefüllte Zinkwanne mit frischem Gehackten macht was her, die könnte man sich glatt schon mal ins Wohnzimmer stellen. Das ganze wird mit den Gewürzen in den Fleischmischer gegeben und darf da jetzt etliche Runden mitfahren. Feierlich gießt der Gastgeber die halbe Flasche Weinbrand hinzu und verkündet dann: „Allet was nich in die Wurst geht, muss in Kopp!“ Na gut, also der erste Schnaps des Tages um kurz vor neun. Nützt ja nix, da müssen wir jetzt durch.

Und danach ist erstmal Frühstückspause. Während der Fleischmischer mit der Salami-Masse Karussell fährt und die Fleischbrühe im Kessel duftend vor sich hin siedet, gibt’s jetzt also rustikales Frühstück. Was für ein Fest! Warme Brötchen mit dem frisch durch den Wolf gedrehten und wunderbar  gewürztem Hackepeter (andernorts auch einfach Mett genannt), sehr viele Zwiebeln oben drauf, wahlweise mit ner knackigen Spreewaldgurke und dazu kühles Berliner Pilsener und heißer Kaffee mit H-Milch. Und es gibt den 2. Schnaps des Tages. Klingt nach einer abgefahrenen Zusammenstellung, passt an diesem Tag aber genau  hier hin.  Dazu fliegen derbe Sprüche und viel Berliner-Schnauzen-Humor. „Aus Hackepeter wird Kacke später, wa? Höhöhö!“ Schwer zu sagen, ob es das kühle Bier, der frische Hackepeter, der warme Kaffee, der 2. Schnaps oder der allgegenwärtige derbe Berlin-Brandenburger  Humor ist, was bereits in diesen frühen Morgenstunden schon eine so dermaßen angenehme Wohlfühlstimmung erzeugt. Vermutlich ist es genau die Mischung aus alle dem. Es gibt keinen Ort auf der Welt, an dem man jetzt lieber wäre. Das muss dieses „Sensmaking“ sein, von dem man auf Manager-Schulungen und Lebensglück-Seminaren hören kann. Also liebe Manager-Verbesserer und Lebensglück-Sucher: Geht raus und  macht Wurst. Und trinkt Schnäpse dazu! Es ist sinnstiftend und macht glücklich!  Ohne Scheiß!

Und dann ist nach dem Frühstück echte Handarbeit gefragt. Der Gastgeber macht vor, was mit der Salamimasse nun passieren muss. Um es kurz zu machen: Die Masse muss in großen Klumpen, mit beiden Händen und mit viel Schwung  in eine Zinkwanne geknallt werden und dann mit aller Kraft mit den flachen Händen verprügelt werden. Und diesen ganzen Vorgang muss man endlos wiederholen. Es geht darum, die Luft aus der Masse zu kriegen, wie von erfahrenen Wurst-Freunden erklärt wird. Denn merkt euch das: „Luft in der Wurst is kacke.“  Kräftezehrende Angelegenheit. So ein morgendliches Workout im Fiti ist ein Scheiß dagegen. Parallel dazu werden Därme gewaschen und mit Wurstgarn  abgebunden. Fummelige Arbeit für Geduldige. Dann doch lieber die Fleischmasse verkloppen. Kurze Zeit später zucken alle Anwesenden zusammen und gehen von einem Wutanfall des Gastgebers aus. Dieser erklärt aber lächelnd, dass man die Wurstmasse mit so viel Krach in den Wurstfüller prügeln muss, damit eben diese blöde Luft nicht in die Wurst kommt. „So, dann wolln wa den Kondom hier mal übern Puller schieben!“ Und so wird meterlanger Darm auf den Wurstfüller gestülpt. Und als die Kurbel in Bewegung gesetzt wird, gleitet die leckere Masse in den Darm und bildet lustige Ringe. Anzügliche Sprüche werden durch den Raum geworfen. Und ganz ehrlich: Wer bei dem Anblick der anschwellenden  Würste keine „Untenrum-Gedanken“ im Kopf hat, mit dem stimmt auch irgendwas nicht. Es sieht spielend einfach aus, wie die erfahrenen Wurstmacher eine Wurst nach der anderen befüllen, geschickt abdrehen, abtrennen und schnell verknoten. Dass diese ganze Sache, die so spielerisch aussieht aber keineswegs so einfach von der Hand geht, merkt man als man selber mal an den Wurstfüller gelassen wird. Die so produzierten Würste sind eine Katastrophe, sie sehen aus wie Unglücke und sorgen für reichlich Erheiterung bei den Mit-Wurstmachern.  „Ick frag mir, wie du deine Gören jezeugt hast, wenn du mit deinem eigenen Puller auch so talentfrei bist!“ Solche und ähnliche Sprüche darf man sich anhören. Und um ehrlich zu sein: Nicht zu unrecht. Und so übernehmen schnell die Wurst-Profis wieder das Kommando.  Und sofort gleiten wieder wunderbar geformte Salamis aus dem  Wurstfüller. Die  Erkenntnis daraus: Wurstmachen ist nicht nur Handwerk, es ist ein verdammtes Kunsthandwerk!

Am Ende landen insgesamt 78 dieser Kunstwerke in zwei großen Zinkwannen. Grund genug für das nächste Bier  und für Raucherpause.

 In Sachen Schnaps ist inzwischen vom Kräuterschnaps und Weinbrand auf Berliner Luft umgestiegen worden. Die schmeckt zwar noch schlimmer, aber dafür hat sie weniger Umdrehungen.  Das ist bei dem Blick auf die Uhr und der kurzen Hochrechnung, wie lange man hier heute noch zu Gange sein wird auch nicht die schlechteste Alternative. Sozusagen flatten the promille-curve, ohne dass man den Begriff „flatten the curve“ bereits kennen würde. Dazu aus der Bluetooth-Box: Cordula Grüüüüüühhn, ich hab dich, ich hab dich, ich hab dich tanzen gesehen!

 Und wie das auf dem Dorf offenbar so üblich ist: Wenn irgendwo Schlachtfest ist, dann spricht sich das rum. Und so ist es ein stetes Kommen und Gehen auf dem Hof. Jeder kommt mal kurz vorbei, trinkt ein Bier oder einen Schnaps mit, gibt hilfreiche und weniger hilfreiche Tipps und es wird jede Menge Schlachter-Latein ausgetauscht.  Es erinnert fast an mediterrane Geselligkeit. Und das mitten im Januar im Brandenburgischen. Das hätte man auch nicht für möglich gehalten.   Vor allem die älteren Dorfbewohner fühlen sich vom Event angezogen. Und bei den Ü-80 Herren, die vorbeischauen, werden die über den Hof geworfenen Lebensweisheiten nach jedem Schnaps etwas anzüglicher.  „Ihr jungen Leute habt das ja auch nich so leicht“ denn:

„Früher war es so jeregelt, dass jeder seine Olle vögelt,

heute ist es sehr verzwickt, weil alles durcheinander fickt!“

Die Opis haben ihren Spaß! Der Uhrzeiger geht nun unbeirrt Richtung 11:30 Uhr. Also höchste Zeit um weiter zu machen.  Die 78 Salamis werden nun fein säuberlich auf Stangen gefädelt. So viele wie möglich auf eine Stange, aber die Würste dürfen sich auf keinen Fall berühren. Darauf wird penibel geachtet. Das weitere Schicksal der Salamis sieht nun wie folgt aus: Ein paar Tage zum Trocknen auf der Stange rum hängen, dann kommen sie kurz in den Rauch und dann sind sie zum Verzehr frei gegeben.

Nächster Tagesordnungspunkt:  Leberwurst!

Jetzt geht es erstmal darum den Schweinebauch, die Schweineherzen und die Schwarte in ihrem Netz aus dem dampfenden Kessel zu fischen.  Bauch und Schwarte werden in kleinere Brocken geschnitten und kommen dann mit Leber, Zwiebeln und einigen Äpfeln in den großen Fleischwolf. Was für ein geiler Geruch schon wieder! Die Masse, die da aus dem Wolf quillt ist deutlich feuchter und klebriger, als die der Salami zuvor. Dann darf man sogar mit in die Würzkammer wo die Familienrezepte für die Wurst gehütet werden. Es werden Kochsalz, Pfeffer, Majoran und eine geheime Würzmischung abgewogen und vermischt. Kurze Diskussion kommt auf ob mit oder ohne Muskat. Man einigt sich auf wenig Muskat. Und dann wird die Gewürzmischung per reiner Handarbeit mit der klebrigen Fleischmasse vermengt. Was für eine geile Sauerei!

Und dann schlägt wieder die Stunde der Kunsthandwerker am  Wurstfüller. Es werden jede Menge Leberwürste in Darm gefüllt, abgebunden und in Zinkwannen gelegt. Über die  Hälfte der Masse gleitet  dann noch in Einweck-Gläser, die sofort in Plastikkisten gestapelt werden.  Inzwischen wurde einem die verantwortungsvolle Aufgabe zugewiesen, Schweineherzen für die Rotwurst in Würfel zu schneiden. Dabei ist man tatsächlich über sich selbst erschrocken, weil das Zerkleinern von Schweineherzen als geradezu meditative Tätigkeit wahrgenommen wird. Ein Haufen Schweineherzen auf dem Schneidebrett, hohe Luftfeuchtigkeit im Raum, der Duft von Wurstsuppe in der Nase und dazu bereits ein paar Schnäpse und 4 große Berliner Pilsener im Kopf. In dieser Gemengelage stört es auch nicht weiter, dass Cora via Bluetooth-Box gerad klagt „Liebe hat total versagt, in Amsterdam!“ Wohlfühl-Wurstmach-Atmosphäre.

Dazu wird immer wieder durchgewischt, abgewaschen, ausgespült und abgewischt, dass es eine wahre Freude ist. Würde das örtliche Gesundheitsamt hier rein schneien, es gäbe nix zu beanstanden!

Zwischenergebnis: 47 Leberwürste im Darm plus 86 Gläser mit Leberwurst. Zeit für ein Bier, Schnaps, na klar, noch ein Hackepeterbrötchen und Small-Talk mit den Dorf-Ältesten. Uhrzeit, irgendwas gegen 13:30 Uhr. Inzwischen hat sich jemand aus dem Dorf eingefunden, um das neuste erstandene Gerät zu zerlegen und in mühevoller Kleinarbeit wieder zusammen zu schrauben, welches der Gastgeber kürzlich bei E-Bay-Kleinanzeigen geschossen hat. Ein Wurstkutter muss durch technisches Geschick wiederbelebt werden. Demnächst ist hier dann nicht nur grobe Wurst, sondern auch Bockwurst und Fleischkäse möglich. Hoffentlich darf man dann wieder mitmachen.

Und jetzt ran an die Rotwurst, die hier auch „Fleischwurst“ genannt wird, aber nix mit einer hessischen Fleischwurst gemein hat. Es wird wieder ordentlich Masse durch den Fleischwolf gedreht. Anschließend wandern die groben Stücke vom Schweineherz und von der Schwarte mit in die Zinkwanne. Und dann wird einem als Wurstmach-Neuling eine besondere Ehre zuteil. Man darf den großen Sack mit frischem Schweineblut anstechen. Früher musste man dann auch ein Glas mit Blut trinken um dazuzugehören, wie die Anwesenden glaubhaft versichern. Heute reicht ein Schnaps. Zum Glück!

Wieder durch kräftige, aber auch liebevolle Handarbeit wird nun alles in der großen Zinkwanne vermengt. Eine blutige Angelegenheit. Wenig später sind auch die Rotwürste im Darm und jetzt geht es ans Brühen. Eine sensible Sache. Die Temperatur darf nicht unter 70 Grad sinken, damit wirklich alle Keime abgetötet werden, sie darf aber auch nicht wirklich über 70 Grad steigen, da sonst die Würste platzen. Ein Ritt auf der Rasierklinge. Wenn das kein Grund für den nächsten Schnaps ist!

Und während die Würste im Kessel vor sich hin brühen, wird das letzte Wurstprojekt des Tages in Angriff genommen. Und um ehrlich zu sein, fängt der Geruch vom Wurstkessel, den man am Morgen und Mittag noch so geil fand, langsam an zu nerven. Nach Stunden am Kessel schlägt, der Geruch allmählich auf den Magen. Aber egal: Grützwurst steht auf dem Plan, die hier liebevoll nur Tote Oma genannt wird.  Leider sorgen die zahlreichen Schnäpse inzwischen dafür, dass man nicht mehr jeden der Arbeitsschritte, die hier immer noch erstaunlich souverän ausgeführt werden,  in Gänze  mitbekommt. Irgendeine Fleischmasse wurde jedenfalls in einem sehr großen Topf mit reichlich  Schweineblut vermischt. Es wird  umfangreich probiert, abgeschmeckt und gefachsimpelt, ob jetzt doch noch ein Hauch Majoran oder besser nicht. Die verwendeten Gewürze riechen ein bisschen nach Weihnachten.  Irgendwann  sind die Leber- und Rotwürste aus dem Kessel abgebrüht und werden mit großen Schaumlöffeln aus dem warmen Wasser  gefischt und in große Zinkwannen, mit kaltem Wasser befördert. Sie dürfen sich nun in der kühlen Badewanne entspannen. Dazu läuft inzwischen die Bundesliga-Sendung von Radioeins über die Bluetooth-Box. Ob man das Drama wirklich hören will, wenn die Eintracht heute von der scheiß Dosen-Truppe auf den Sack bekommt?

Egal, hier gibt es erstmal wichtigeres, Wurstmachproblem: Die zum Aufkochen der Toten Oma vorgesehene Gaskochplatte funktioniert nicht. Aber kein Problem, welches die handwerklich geschickten Wurstmacher hier nicht lösen könnten. Von irgendwoher wird ein alter Campingkocher im XXL-Format angeschleppt, kurz ein Gas-Schlauch zurechtgeschnitten, mit ein paar passenden Schlauchverschraubungen und Dichtungsringen versehen und ruckzuck eine Gasflasche angeschlossen. Und schon lodert die blaue Flamme und die Tote Oma kann eingekocht werden. Es muss permanent gerührt werden. Das erfordert eine Art Rührstaffel. Der überdimensionale Löffel wird nach einigen Minuten wie ein Staffelholz an den nächsten übergeben, da es eine durchaus kräftezehrende Angelegenheit ist. Die, die gerade nicht rühren, trinken Bier. Draußen hat die Abenddämmerung längst wieder eingesetzt. Die 16-Uhr-Nachrichten von Radioeins vermelden noch keine Tore aus dem Frankfurter Waldstadion, stattdessen, dass die chinesische Stadt Wuhan inzwischen vollständig abgeriegelt ist, wegen diesem komischen neune Virus. Gruselig, aber zum Glück ja weit, weit weg. Gut, dass es bei uns sowas nicht gibt!


Währenddessen kochen die Leberwurstgläser in alten, umfunktionierten Waschmaschinen  aus der Produktion des real existierenden Sozialismus vor sie hin und werden dadurch haltbar gemacht. Und irgendwann kommt dann das Kommando: „Wurstschalen vorbereiten!“ Man muss nun zügig stabile Plastikschalen mit heißem Wasser ausspülen, die dann wenig später mit der Toten Oma befüllt werden.

Nachdem das abgeschlossen ist, wird sich wieder den entspannt in der kühlen Badewanne vor sich hin dümpelnden  Leber- und Rotwürsten gewidmet. Die dürfen jetzt raus und jede einzelne der Würste wird  durch sorgfältige Handarbeit liebevoll abgewischt, damit keine Rückstände an der Wurst haften bleiben, die sie später verderben lassen könnten. „Je mehr Liebe du rinn steckst in die Wurst, umso mehr Jeschmack gibt sie dir irgendwann zurück, dit ist ne janz einfache Rechnung!“ so die schlüssige Erläuterung des Gastgebers. Unterdessen meldet Radioeins: Halbzeit in der Bundesliga. Auch die Gläser aus den Waschmaschinen sind fertig und werden aus den Kisten gepackt. Nachdem das erledigt ist, gibt’s noch mal kurz Zeit zum durchschnaufen. Ist auch nötig, Erschöpfung macht sich breit. Noch ein Bier und noch ein Schnaps, ist doch klar. Man ist ohnehin inzwischen besoffen, da macht  die nächste Runde die Wurst auch nicht mehr fett. Und dann wird’s laut in der Schlachtkammer: Union führt in der Alten Försterei gegen Augsburg! Jubel bei den Union-Wurstfreunden. Und zack, eine Minute später ein einsamer Jubelschrei: Toure hat die Eintracht tatsächlich mit 1:0 in Führung geschossen, was ist denn da los!?

Und die größte Herausforderung des Wurstmach-Tages steht jetzt erst an: Die Schlachtkammer muss   wieder in ihren Ursprungszustand von heute Morgen versetzt werden. Und wie das funktionieren soll, ist bei dem Blick auf die ganzen eingesauten Wannen, Eimer, Bretter, Werkzeuge und sonstigem blutverschmierten  Zeug, das da durcheinander liegt, tatsächlich ein Rätsel. Aber mit dem Slogan „Viele Hände, schnelles Ende“ geht es an die Arbeit. Es werden Sachen mit dem Schlauch abgespritzt, es wird geschrubbt, gespült,  gekratzt, gewischt, poliert und aufgeräumt. Feucht fröhlich, die Finger sind von dem ganzen Wasser schon schrumpelig, wie früher als Kind in der Badewanne. Und dann schon wieder Jubel bei den Union-Kumpels, 2:0 gegen Augsburg.

Und zwischendrin kommen vor allem ältere Dorfbewohner vorbei und lassen sich in alten Milchkannen und sonstigen stabilen Gefäßen Wurstbrühe abfüllen und wandern mit ihrer Beute zufrieden wieder von dannen. Auch die Hertha-Freunde haben zwischenzeitlich Grund zum Jubel, Führung in Wolfsburg. Fußballmäßig läufts für alle in der Schlachtkammer bislang nach Plan! Man kann den Wurstbrühen-Geruch aus dem Kessel inzwischen fast  nicht mehr  ertragen. Die Mischung aus Wurstkesselgeruch und den unzähligen Bieren und Schnäpsen hat es in sich. Leichte Übelkeit und Erschöpfung greift um sich. Doch der Stimmungsaufheller  kommt aus dem Radio: 2:0 durch Kostic, bäm! Die Eintracht gewinnt tatsächlich gegen den Tabellenführer. Was ist denn das bitte für ein geiler Tag! Und dann, nach ungelogenen 2,5 Stunden aufräumen und putzen glänzt die Schlachtkammer tatsächlich fast wie neu.

Puh, was ist man betrunken und kräftemäßig im Arsch. Aber der Blick auf das Tagwerk macht zufrieden. Ein letztes Feierabendbier auf dem alten Ledersofa, welches in der Scheune nebenan steht. Es gibt zwar nur noch Radeberger, aber das ist jetzt auch egal. Müde Verabschiedung, nicht ohne sich für die kommende Woche zum Wurst-Abholen zu verabreden. Und dann geht es rauf auf das Fahrrad und schwankend durch  die ungemütliche Winternacht nachhause. Ein wunder, dass man das unfallfrei hinbekommen hat. Eigentlich war das Aktuelle Sportstudio am Abend noch eingeplant, damit man wenigstens die Tore des glorreichen Eintracht-Sieges mal gesehen hat. Dieses Vorhaben wird von  den vielen im Blut befindlichen Schnäpsen und der in den Knochen steckende Wurstmach-Erschöpfung durchkreuzt. Bevor das Sportstudio beginnt, ist man längst in Träumen vom Bratwurst-Machen  entschlummert, für das man sich trotz besoffenem Kopp noch für Ende März verabredet hat. Konnte ja keiner Ahnen, dass die Welt Ende März eine komplett andere sein würde, in der vorerst kein Platz mehr für Wurstmachen in geselliger Runde sein wird.

Wurstanschnitt, einige Tage später

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